Leonie Hoffmann lebt jahrelang in einer toxischen Beziehung, die sie beinah das Leben kostet.
Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.
Wir lernten uns auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt kennen. Tatsächlich fühlte es sich weniger wie ein Kennenlernen als vielmehr wie ein Erkennen an. So führten wir bereits an diesem Abend so tiefe Gespräche, wie ich sie mit kaum einem anderen Menschen zuvor geführt hatte. Dieser Mann gab mir das, wonach sich mein junges Herz so lange gesehnt hatte: Liebe, tiefe Seelenliebe. Schon bei unserer ersten Begegnung vermittelte er mir das Gefühl, etwas ganz Besonderes in mir zu sehen.
Nur wenige Wochen später hatte ich das erste Mal Blutergüsse von ihm. Denn seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zu einer besitzergreifenden Eifersucht
Seine Eifersucht
Die totale geistliche Verblendung und fortlaufende Gehirnwäsche war nicht das einzige, was mich bei Alex hielt und mich unbemerkt immer weiter in die Abhängigkeit von ihm trieb. Denn wenn er mich gerade einmal nicht verhörte oder verprügelte, gab er sich die größte Mühe, dass die Erinnerungen an unsere „himmlische“ Anfangszeit nicht verblassten. Ja, es gab in all dem Schrecklichen immer wieder flüchtige Momente der Unbeschwertheit und Verliebtheit. Momente wie diesen:
Ich liege körperlich und seelisch noch ausgelaugt von der letzten Prügelattacke auf dem Bett, nachdem eine zunächst harmlose Diskussion wieder einmal völlig eskaliert ist. Plötzlich läuft der Song „Time Of My life“ im Radio. Alex kommt zu mir herüber, küsst zärtlich meine Wunden – die er mir zugefügt hat –, dann mich. Jetzt ist das Monster wieder weg und mein geliebter Alex zurück. Schließlich fordert er mich verschmitzt grinsend dazu auf, mit ihm zu tanzen. Mein Körper tut noch weh von seinen Schlägen, doch wenn er mich so anschaut, mich liebevoll an sich zieht und „sein Mädchen“ nennt, bekomme ich noch immer Kribbeln im Bauch. Und noch immer hat er eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich, dank der er es immer wieder schafft, mich körperlich und seelisch an sich zu binden. Ich singe und meine, dass dies die „Zeit meines Lebens ist“ – denn so habe ich tatsächlich „noch nie zuvor gefühlt“.
In solchen Momenten gelang es mir, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, dass unsere „Liebe“ die einzige Realität war und mir der ganze durchlebte Horror unwirklich erschien. Es waren diese Momente, in denen ich glaubte, „sein wahres Ich“ wiederzuerkennen, den Alex, der die Liebe meines Lebens war. Immer noch. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er doch eigentlich ganz anders war: unendlich liebevoll und einfühlsam, wertschätzend und charmant. Ja, noch immer konnte er mir das Gefühl geben, ihm alles zu bedeuten und die schönste und tollste Frau der Welt zu sein – und vor allem in Momenten, wenn ich es niemals erwartet hätte. Wie einmal auf dem Parkplatz vor McDonald’s, als ich gerade herzhaft in meinen Burger biss und er plötzlich innehielt, mir sanft über die Wange streichelte und mit Tränen in den Augen sagte: „Du bist wunderschön, weißt du das eigentlich? Wenn ich mir jemals meine Traumfrau beim Burgeressen vorgestellt habe, dann sah sie genauso aus wie du in diesem Moment.“
Ja, in solchen Momenten war es unvorstellbar, dass sich der Schalter jemals wieder umlegen würde; dass sich die Hände, die mich eben noch so zärtlich gestreichelt hatten, irgendwann wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen würden; dass mich derselbe Mund, der mich eben noch angestrahlt und liebevoll geküsst hatte, irgendwann wieder anschreien, bespucken oder bestialisch beißen würde. Aber es passierte. Immer wieder. Und in immer kürzeren Abständen.
Ich komme von der Uni nach Hause, wo Alex schon auf mich wartet. „Wie war dein Tag?“, fragt er mich. „Okay“, antworte ich. „Willst du mir nicht etwas erzählen?“, sagt er und schaut mich dabei kritisch an. „Nein, was denn?“, erwidere ich und versuche, so gelassen wie möglich zu wirken. „Bist du sicher?“ Seine Augen weiten sich und ich verfalle schon wieder in Angststarre. „Du hast mir also nichts zu verheimlichen, ja?“ – „Nein, ich habe dir nichts zu verheimlichen“, sage ich und fühle mich trotzdem schuldig. „Und warum bekommst du dann Angst, hä?“, schreit er mich an und drückt mich gegen die Wand. „Ich weiß es nicht“, stottere ich. Aber eigentlich weiß ich es doch: Weil es egal ist, was ich jetzt sage, denn er wird mich so oder so verprügeln. „Aktion, Reaktion“, hat er erst neulich wieder zu mir gesagt. „Es ist ganz einfach: Du baust Scheiße und ich reagiere. Hör einfach auf damit und ich muss dich nicht ständig bestrafen.“ Schade nur, dass es inzwischen ein Ding der Unmöglichkeit für mich geworden ist, mich so zu verhalten, dass ich in seinen Augen keine „Scheiße baue“. Es reicht schon, wenn ich aus Versehen einmal eine Wasserflasche umstoße, ihn angeblich komisch anschaue oder zu viel Fleischsalat auf sein Brot schmiere. Nein, ich muss nicht einmal etwas Falsches tun, etwas Falsches denken genügt auch schon. Denn auch meine Gedanken kontrolliert er – mehr noch, er scheint sie lesen zu können. Jetzt riecht er an mir und ist plötzlich felsenfest davon überzeugt, dass ich nach einem fremden Mann rieche, mit dem ich angeblich auf der Uni-Toilette Sex gehabt habe.
So fängt es immer an. Bessere Gründe findet er nie. Ich weiß, die Explosion lässt sich jetzt nicht mehr abwenden, also sage ich lieber gar nichts und lasse es einfach über mich ergehen.
Diesmal ist es besonders schlimm. Er zerrt mich an den Haaren aufs Bett, tritt und schlägt auf mich ein. Dann verpasst er mir einen so festen Faustschlag aufs Auge, das ich erst die berühmten Sternchen funkeln und danach für einen kurzen Moment gar nichts mehr sehe. Irgendwann fängt er an, mich am ganzen Körper zu beißen wie ein wild gewordenes Tier. Am Ende beißt er sich abwechselnd in meiner linken und rechten Wange fest.
Als er mit mir fertig ist, pulsiert mein ganzer Körper vor Schmerzen. Meine zerbissenen Wangen sind dick geschwollen und verfärben sich langsam grün und blau. Als Alex „sein Werk“ sieht, bricht er in Tränen aus und entschuldigt sich, verspricht – einmal mehr –, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Dann lässt er mir ein Bad ein und bestellt meine Lieblingspizza: Brokkoli mit Mais und Käserand. Ich lege mich in die Badewanne und versuche, meinen geschundenen Körper zu entspannen. Alex setzt sich neben der Wanne auf den Boden und streichelt zärtlich über meine Verletzungen. Erneut kommen ihm die Tränen. „Es tut mir so leid“, flüstert er immer wieder. Dann streicht er mir langsam über die Beine „Weißt du eigentlich, dass ich jeden Millimeter an dir liebe, mein Schatz?“
Als ich nicht reagiere, versucht er etwas anderes: „Du musst mal in den Spiegel schauen. Du siehst aus wie ein süßer Breitmaulfrosch!“, sagt er und lächelt vorsichtig. Ich merke, dass er ahnt, wie unangebracht und absurd sein versöhnlich gemeintes „Kompliment“ in dieser Situation ist. Trotzdem kann ich ihn in diesem Moment wieder einmal nicht mehr dafür verachten, dass er es war, der mich in diesen „Breitmaulfrosch“ verwandelt hat.
Auch den Rest des Abends war Alex sehr liebevoll zu mir und gab sich die größte Mühe, dass ich in dem Mann, der mich so zärtlich umsorgte und meine Wunden pflegte, nicht auch den sehen konnte, der mir genau diese zugefügt hatte.
Es war immer das Gleiche: Der Schalter wurde jäh umgelegt – von Liebe auf Hass, von Verherrlichung auf Abwertung und wieder zurück. Es gab keine langsame Metamorphose zwischen meinem Traummann und meinem Albtraummann, die es mir ermöglicht hätte, zu realisieren, dass er ein und derselbe war. Wenn der eine da war, gab es den anderen nicht und umgekehrt.
Das Dr.-Jekyll-Syndom
In der Psychologie spricht man vom „Dr.-Jekyll-Syndrom“. Für eine Beziehung mit solch einem Menschen ist es typisch, dass der gewalttätige Partner eine unglaublich empathische und charmante Seite hat, die er zu Anfang der Beziehung – und eben auch immer wieder zwischendurch – zeigt, und mit diesem „Dr. Jekyll“ erlebt die Frau den ultimativen Honeymoon. Es macht ja auch Sinn: Mit irgendetwas müssen es diese Männer schließlich schaffen, ihre Partnerin so an sich zu binden, dass sie all das Negative in der Beziehung in Kauf nimmt oder es gar verleugnet, dass es auch die böse Seite, den „Mr. Hyde“ in ihm gibt. Es ist ein Schutzmechanismus der Psyche, den Täter und den Liebhaber gedanklich voneinander zu trennen, weil sie diese beiden Persönlichkeiten schlichtweg nicht unter einen Hut bekommt – denn täte sie es, würde sie daran zerbrechen.
Dadurch, dass die beiden Seiten dieser Männer so konträr sind, kann man sich tatsächlich eine Zeit lang vorgaukeln, man wäre mit dem liebevollsten, romantischsten, einfühlsamsten Mann der Welt zusammen und ab und zu käme eben diese Bestie vorbei. Für die Frauen fühlt es sich wirklich so an, als gäbe es in dieser Beziehung einen bösartigen Dritten. Bei diesem würde natürlich keine Frau freiwillig bleiben, aber zusammen mit „Dr. Jekyll“ schafft man einfach alles – selbst, mit diesem Monstrum fertigzuwerden. Nur ohne ihn schafft man vermeintlich gar nichts mehr.
Genauso empfand ich es damals auch. Und noch etwas anderes bewirkten diese beiden Extreme bei mir: Sie ließen meine Seele ständig unter Hochspannung stehen und mich innerlich nie zur Ruhe kommen, um alles einmal gründlich reflektieren zu können. Ich war immer nur im Augenblick gefangen und wusste nie, wo ich im nächsten landen würde – im Himmel oder in der Hölle. Aber eigentlich war es auch nicht so wichtig, solange Alex und ich zusammen dort waren. Alles war nur „eine Erfahrung“. Alles war nur ein Spiel. Unser kleines „Himmel und Hölle“-Spiel.
Mein Leben danach
Viele Therapiegespräche, Gebete und die Liebe meiner Familie und meiner Freunde halfen mir Schritt für Schritt beim Wiederaufbau meines Lebens. Das eigentliche Wunder jedoch hat Gott vollbracht. Denn er hat mich innerlich wiederhergestellt. Stück für Stück hat er die Fetzen meiner geschundenen Seele zusammengenäht. Behutsam, mit unendlicher Gnade und Liebe. Langsam konnte die Dunkelheit in mir seinem Licht weichen. Irgendwann durfte ich wieder erleben und spüren, was ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: dass ich geborgen bin in den Armen meines himmlischen Vaters. Endlich.
Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich ins Leben und in die Freiheit zurückgeführt – seine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. Ich habe die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Gott kann uns ein neues Leben schenken, selbst wenn alles in uns gestorben scheint. Immer an Karfreitag denke ich deshalb zurück. An mein dunkelstes Kapitel, das ich dann wieder schließen und dankbar zur Seite legen kann. Denn meine Hoffnung ist auferstanden.
Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte ist im Buch „ÜberWunden“ aufgeschrieben, das im Verlag Gerth Medien erschienen ist. *
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