Heute Morgen kroch ich in aller unchristlicher Frühe diesem dritten Januartag entgegen, der sich wenig freundlich und einladend zeigte, wahrscheinlich war er auch noch müde. Ich erweckte Kinder zum Leben, eine wundersame Leistung biblischen Ausmaßes, nötigte Pausenbrote in Dosen und den Hund nach Draußen. Ich erinnerte an Fahrkarten, Schlüssel und verarztete eine lädierte Hand und einen lädierten Kopf. Vor der Haustür finsterste Schwärze. „Kein Wunder!“, maulte ich mitten hinein in`s schönste Durcheinander, „kein Wunder, dass Neujahrsvorsätze die erste Woche nicht überleben. Von wegen Euphorie des Anfangs!“ Ein Zwölfjähriger auf der Suche nach seinem zweiten Schuh erklärte, dass es sich bei ihm allerhöchstens um eine euphorische Stunde, nämlich von Mitternacht bis ein Uhr morgens, handeln würde.
Euphorische Stunden sind großartig. Meistens handelt es sich dabei um die Stunden, in denen Leben geschenkt wird. Die Geburtsstunde eines Kindes. Der Beginn einer Liebe. Der Start eines neuen Projekts. Das Erwachen eines Traumes. Die Geburtsstunde eines neuen Jahres voller Möglichkeiten und Aussichten. Etwas Neues beginnt, es liegt ein Zauber darin, will wachsen und bestaunt werden, erfüllt Herzen mit Dankbarkeit und Freude. Du ahnst, dass etwas Großes im Kleinen liegt und es lässt dein Herz hüpfen. Eine euphorische Stunde. Nach der euphorischen Stunde wird es meistens still und leise und weniger dramatisch. Das geborene Kind wird langsam wachsen, jeden Tag ein winziges Stück. Die Liebe, so es eine echte ist, wird Wurzeln schlagen, Zentimeter für Zentimeter in deinem Herzensgrund. Deinem Projekt musst du Zeit schenken und Arbeit, es braucht einen langen Atem bis zum Schlusspunkt. Bevor du deinen Traum in der Wirklichkeit umarmen darfst, ist es eine weite Reise, auch wenn es lohnt, Schritt für Schritt kommt ihr einander näher.
Nur nach der Geburt eines neuen Jahres erwarten wir, dass es in gestrecktem Galopp loslegt, frisch, ausgeruht und zu allen Schandtaten bereit. Neue Menschen müssen her, geschaffen aus neuen Vorsätzen und einem Füllhorn an Optimierungsfantasien. Neue Ordnung, neuer Geist und gerne auch neue Körper, bitte jetzt und bitte gleich. Der gestreckte Galopp endet nicht selten abrupt in der dunklen Kälte eines Januarmorgens, atemlos und nach Enttäuschung schmeckend.
Oder wir feiern unsere euphorische Stunde. Bestaunen das neue Jahr, es liegt ein Zauber darin, wer weiß, was es alles bringen mag? Und dann darf es still werden und langsam und weniger dramatisch. Wir treiben uns und das Jahr nicht mit Peitschenhieben zu Höchstleistungen, sondern lassen es langsam wachsen, jeden Tag ein winziges Stück. In die Tiefe unserer Leben wurzeln, Zentimeter für Zentimeter. Mit langem Atem und Schritt für Schritt. Mit Fürsorge für dich und deine Tage, liebevoll, wohlwollend, wie für ein Neugeborenes. Wenn die Morgen wieder heller werden, wenn die Winterruhe, die beileibe nicht „Zwischen den Jahren“ mal eben so erledigt werden kann, wenn diese dem Frühling Platz macht, dann kann dein Jahr schon ausgelassen springen, wie ein junges Füllen.
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