Die Corona-Pandemie hat bei Kindern und Jugendlichen Spuren hinterlassen. Wie begleiten wir unsere Kinder, wie können wir ihnen helfen, die vergangenen zwei Jahre zu verarbeiten und mental gesund zu bleiben?
Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber erklärt in ihrem Buch „Coronakids“, wie Eltern ihren Kindern helfen können, die Pandemie gut zu verarbeiten.*
Was braucht das kindliche Gehirn normalerweise für eine gesunde Entwicklung?
Das kindliche Gehirn braucht Erfahrungen. Es muss sich weiterentwickeln und sich mit all seinen Verschaltungen an seine jeweilige Umwelt anpassen – es muss lernen. Über den eigenen Körper, über die eigene emotionale Welt, über die Naturgesetze und – ganz wichtig – über die soziale Welt. Damit dies möglich ist, benötigt das Kind eine Umwelt, die ihm diese Erfahrungen bietet und die ihm ausreichend Sicherheit vermittelt. Also eine verlässliche Begleitung durch Menschen, mit denen es verbunden ist, und damit einhergehend Ruhe und Entspannung. Nur in diesem Zustand kann das kindliche Gehirn gut lernen.
Was hat den Gehirnen unserer Kinder in der Pandemie und speziell in den Lockdowns gefehlt?
Vor allem entspannte Eltern, denen es gelingt, sich in das Kind und seine Belange einzufühlen. Wir Eltern waren sehr gestresst in der Pandemie, zumindest viele von uns: existenzielle Sorgen, Angst vor einer Erkrankung, Home-Office mit quengelndem Kind auf dem Schoß, Homeschooling, kaum Möglichkeiten zum Stressabbau durch Sport oder Treffen mit Freunden. Ist das elterliche Gehirn im Stressmodus, dann ist es stumpf gegenüber den Bedürfnissen der Kinder. Den Eltern gelingt es nur schlecht, sich in das Kind einzufühlen, zu erkennen, was es gerade braucht, welche Bedürfnisse und Gefühle es daran hindern, ruhig und entspannt zu sein – und von der Umwelt zu lernen.
Schadet es den Kindern, wenn sie eine Welt voller Masken sehen?
Schön findet das kindliche Gehirn diese Welt voller Masken bestimmt nicht. Es benötigt den Gesichtsausdruck anderer Menschen, um sich in der sozialen Welt zu orientieren. Versiegt diese Informationsquelle, ist das ungefähr so, als würde man einem Hund die Nase zuhalten. Dem kindlichen Gehirn dürfte es zwar nicht so wichtig sein, ob Menschen etwa in der U-Bahn oder im Supermarkt Masken tragen, immens wichtig ist aber die Mimik der Bezugspersonen des Kindes. Über deren Gesichtsausdruck lernt das Kind nämlich auch über seine eigenen Gefühle. Und auch das Erkennen der Mimik der Erziehenden und Lehrenden ist ungemein wichtig für die Orientierung in der sozialen Welt, aber auch für das Lernen.
Schadet es Kindern, dass sie so lange isoliert waren?
Mit zunehmendem Alter benötigen Kinder immer mehr das Miteinander mit anderen Kindern. Sie benötigen das Spiel mit anderen, das Rollenspiel, das gemeinsame Erproben der Welt. Sie üben dabei, eigene negative Gefühle in den Griff zu bekommen und die Perspektiven anderer zu verstehen und zu berücksichtigen. Und sie lernen auch, sogenannte Soft Skills zu entwickeln: Durchhaltevermögen, Konzentration, Kooperationsfähigkeit und weitere. Waren Kinder wirklich isoliert von anderen, dann dürften sie hier zunächst Defizite aufgebaut haben. Viele Kinder hatten aber ja auch ein paar wenige Gleichaltrige oder auch Geschwister, mit denen sie spielen konnten.
Schadet es ihnen auch, wenn sie die Angst und Not der Pandemie wahrnehmen?
Gerade für die kleineren Kinder sind die Gefahren der Pandemie ja noch sehr abstrakt, sie können die meisten der damit verbundenen Probleme gar nicht einordnen. Ihnen ist vor allem wichtig, dass ihre Bezugspersonen verlässlich bei ihnen bleiben. Ist das nicht sicher, bekommen auch sie Angst. Die elterliche Angst vor all den potenziellen Folgen der Pandemie nehmen sie aber durchaus wahr – und reagieren, vor allem dann, wenn sie selbst eine eher ängstliche Natur haben, ebenfalls mit Angst. Da ist es ganz wichtig, mit den Kindern zu reden, für sie da zu sein und ihnen zu zeigen, dass die Beziehung nicht gefährdet ist.
Was können wir Eltern tun, damit unsere Kinder aufholen, was sie verpasst haben?
Wichtig ist, dass wir uns nicht vor allem auf die Bildung fokussieren. Natürlich ist Bildung wichtig, überaus wichtig, gerade auch für Kinder aus benachteiligten Elternhäusern. Aber – und das ist ein Punkt, den wir nicht vergessen dürfen: Das Gehirn braucht einen Zustand der Ruhe, um nachhaltig lernen zu können. Das Kind muss einigermaßen entspannt sein, darf keine unerfüllten Grundbedürfnisse haben, und es muss gewisse Eigenschaften mitbringen, die ihm das Lernen überhaupt ermöglichen, die oben erwähnten Soft Skills. Füttern wir unsere Kinder nun ausschließlich mit Lerninhalten, ist das in etwa so, als würden wir Wasser in eine verrostete und löchrige Tonne schütten: Es würde versickern.
Was brauchen unsere Kinder jetzt am ehesten?
Kinder, Eltern, wir alle brauchen Verständnis füreinander und möglichst wenig Stress. Kinder brauchen Verständnis, wenn das mit dem effizienten Lernen nicht sofort hundertprozentig gelingt. Und auch Jugendliche brauchen Verständnis. Für sie war die Pandemie besonders problematisch, darauf bin ich in meinem Buch ausführlich eingegangen. Es hilft ihnen nicht, wenn sie jetzt hören: „Du hast doch nun schon eineinhalb Jahre eine ruhige Kugel geschoben, jetzt gib mal Gas!“ So funktioniert ihr Gehirn nicht. Und wir alle brauchen Vertrauen darin, dass die Kinder die für sie wichtigen Lerninhalte schon bekommen werden, Vertrauen in das Gehirn, zu dessen Eigenschaften es gehört, sich fehlende Puzzleteile im Weltverständnis selbst zu suchen, und Vertrauen in die Kompetenz der Lehrkräfte, die wichtigen, pandemiebedingt entstandenen Lücken in der Bildung der Kinder aufzuspüren.
Was müssen Familien in den kommenden Monaten beachten, damit sie sich von der Pandemie erholen?
Sie sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren. Darauf, möglichst wenig Stress zu haben und viel Zeit gemeinsam zu verbringen. Dinge, die man verschieben kann, zu verschieben. Muss wirklich dieses Jahr renoviert werden? Der Kleiderschrank ausgemistet werden?
Wie kann Familien geholfen werden, die durch die Pandemie vielen verschiedenen Stresskomponenten ausgeliefert sind oder waren?
Diese Familien brauchen Unterstützung. Sie müssen aufgefangen werden, brauchen Ansprechpartner, niedrigschwellige Hilfen im Stadtteil, um ihre Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Eltern benötigen diese Unterstützung, aber auch die Kinder selbst. Gerade Kinder, deren Zuhause kein sicherer Hafen ist, brauchen Menschen außerhalb der Familie, mit denen sie reden können, Erziehende in der Kita, Lehrende in der Grundschule oder auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den verschiedenen Einrichtungen. Wollen wir verhindern, dass die soziale Schere sich noch weiter öffnet, muss hier personell drastisch aufgestockt werden. Gegenwärtig hat ja kaum jemand Zeit für die Kinder und ihre Probleme. Und Therapieplätze für diejenigen, deren Schwierigkeiten zu groß sind, gibt es auch nicht.
Man kann also knapp sagen: Familien, die viele Ressourcen haben, können sich wahrscheinlich – mit Verständnis und viel freier Zeit – von der Pandemie erholen. Die Kinder aus Familien, die über weniger Ressourcen verfügen, brauchen besonders viel Aufmerksamkeit von außen, damit der gesellschaftliche Graben sich nicht weiter verschärft.
Welche Ressourcen meinst du?
Es geht vor allem um die inneren Ressourcen. Um die Fähigkeit der Eltern, sich in die Kinder einzufühlen, ihre Gefühle zu erkennen und ihnen verlässlich Sicherheit zu vermitteln, sich selbst im Miteinander der Familie entspannen zu können, die Herausforderungen des Alltags anzugehen und auch bewältigen zu können – ohne dass es zu einer Implosion oder Explosion kommt. Aber auch äußere Bedingungen sind wichtig: Gibt es ausreichend Platz, damit sich alle auch mal aus dem Weg gehen können, damit die Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben können, ohne allen gleich auf die Nerven zu gehen? Gibt es einen Garten? Gibt es soziale Unterstützung, Großeltern oder Nachbarn, die sich mit den Kindern beschäftigen können, wenn es den Eltern zu viel wird?
Wie können wir eine optimistische Einstellung erlangen hinsichtlich der Folgen der Pandemie?
Für uns als Gesellschaft bietet die Pandemie die Gelegenheit, strukturelle Probleme anzugehen, die schon seit Langem gegeben sind, deren Auswirkungen aber nun in Zeiten der Krise deutlich an die Oberfläche treten. Wir können da an die häufig entfremdete Art des Lernens in der Institution Schule oder auch an die Wartelisten im Bereich Psychotherapie denken. Und für die Kinder selbst gilt: Jede Krise, die bewältigt wird, macht stärker. Gelingt es uns, unsere Kinder so zu unterstützen, dass sie gegebenenfalls verpasste Erfahrungen nachholen können und nicht durch erhöhten Bildungsdruck noch mehr emotionale und soziale Erfahrungen verpassen, dann werden sie die Pandemie psychisch unbeschadet überstehen. Und dies mit dem Wissen, dass Krisen überwindbar sind. Dieses Gefühl wird sie auch dann begleiten, wenn sie später auf eigenen Füßen stehend Krisen überwinden müssen. Sie sind gerüstet für Herausforderungen, stark, resilient.