Jedes Jahr steht in christlich-kirchlichen Kreisen unter einem Bibelvers. Dieses Jahr ist er aus dem Lukas Evangelium Kapitel 6 Vers 36:
Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
Barmherzigkeit ist mehr als Mitleid. Wo Mitleid dem Kopf und Herz entspringt, ist Barmherzigkeit aktionsreicher. Sie handelt. Barmherzigkeit ist quasi handelndes Mitleid. Sie steht nicht tatenlos herum, wenn es anderen Menschen schlecht geht, sondern geht aktiv auf diejenigen zu, die Hilfe brauchen. Sie wächst vielleicht sogar über sich hinaus und wendet den Blick von den Meinungen anderer hin zum wirklichen Schmerzensgrund.
Barmherzig mit sich selbst sein
Barmherzig kann man aber auch mit sich selbst sein, und das vielleicht auch eben genau 2021, nach dem “Corona-Jahr”. Dieses Jahr hat jeden von uns an seine Grenzen gebracht und herausgefordert. Die einen hatten zu viel Arbeit, die anderen mussten permanent neu sortieren, neu denken, Veranstaltungen absagen, neue Jobs finden. Die einen hatten Existenzangst, andere haben jemanden verloren. Die einen waren krank, die anderen mit Ausgangssperren im Lockdown. Die einen hat die Krise emotional an ihre Grenzen gebracht. Manche haben sich getrennt, andere mussten ihre Hochzeit verschieben. Einige haben ihre Kinder eingeschult, andere geweint, weil ihre Kinder 8h lang Masken tragen sollten im Unterricht. Emotionen sind hoch gekocht, manchmal übergebrodelt, manchmal schweigend unter den Teppich gekehrt worden.
Wofür die Krise gut war
Krisen sind dafür da, um daran zu wachsen, um über sich hinaus zu wachsen und stärker zu werden. Wenn das Jahr 2020 dafür gut war, dann war es vielleicht kein ganz schlechtes Jahr. 2020 war für uns als Familie alles andere als ruhig. Für Menschen ohne Kinder zu Hause war es vielleicht anstrengend, weil es zu ruhig und langweilig war. Für uns war es Stress. Aber wir sind gewachsen. Jeder für sich. Miteinander. Aneinander.
Und nun gilt es, barmherzig zu sein mit sich selbst. Nicht zu viel von sich zu verlangen, sondern auch mal die Seele zu streicheln und sich selbst leise zu zu flüstern, dass man gut genug ist. Das man es gut macht und es ausreichend ist. Barmherzig zu sein mit dem eigenen Körper und nächstes Jahr bewusst öfter in die Saunen zu gehen, wenn wir wieder dürfen. Barmherzig zu sein mit der eigenen Seele und öfter Kulturveranstaltungen zu besuchen, sich etwas gönnen und mehr zu atmen. Und barmherzig zu sein mit dem eigenen Herz, was 2020 wohl bei allen mal an die eigenen Grenzen gestoßen ist.
Wenn man in den Originaltext der Bibel schaut, ergibt sich meist noch mehr. Denn das Wort “Barmherzigkeit” ist nur eine Übersetzung.
Im griechischen Text steht in Lukas 6,36 das Wort οἰκτίρμονες was soviel bedeutet wie “Mitgefühl”. In der griechischen Antike drückte das Wort “OIKTOS” ein Wehklagen aus, ein mit Worten ausgedrücktes Mitgefühl. Das kann ein Wort des Trostes bedeuten, eine Umarmung, eine mitfühlende Geste oder nur ein aufmunternder Blick. OIKTIRMON-Mitgefühl bedeutet also, dass man das Leid, das einem begegnet, empfindet und mit leidet. Danach handelt man in spontaner Weise.
Durch barmherziges Handeln, mir selbst und anderen gegenüber begegne ich der Liebe Gottes. So barmherzig wie Gott mit mir ist, darf ich auch mit mir selbst sein. So barmherzig Gott mit anderen ist, so voller Mitgefühl und Liebe darf ich auch mit ihnen sein.