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Langsam und vermessen

Eines unserer Kinder ist ein wenig schief geraten. Nur die Hüfte, das Becken und ein oder zwei Rippen. Ansonsten kerzengerade, vor allem innerlich. Nichtsdestotrotz mussten wir einen Orthopäden aufsuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Das übliche Prozedere bei solchen Geschichten sieht eine Untersuchung und die anschließende Verschreibung von Einlagen vor. Vielleicht noch ein wenig Physiotherapie, mehr nicht. Dieser Orthopäde arbeitet anders. Das Kind musste wiederkommen und sich eine halbe Stunde auf ein Laufband stellen, wobei offensichtlich alles vermessen wurde, was irgendwie messbar war. Und nun erarbeitet der Orthopäde in Gemeinschaft mit einer Physiofachfrau ein speziell zugeschnittenes Kraftprogramm. Drei Monate lang werden sie die Übungen und ihre Auswirkungen mit dem Kind einüben und dann sollen sie in das normale Sportprogramm integriert werden. Alles andere, sagt der Orthopäde, sei quatsch. Alles andere würde nur kurzfristig Abhilfe schaffen, aber leider kein Problem lösen. „Das ist aber sehr langwierig“, dachte ich mir. „Und auch aufwendig!“ Um nicht zu sagen richtig nervtötend. Ich persönlich bin eher von der Fraktion: Problem erkannt, Problem gebannt. Fix und lösungsorientiert. Andererseits sind drei Monate eine relativ überschaubare Zeitspanne im Verhältnis zu einem hoffentlich langen Menschenleben ganz ohne Einlagen und, viel wichtiger, ohne schiefe Hüfte.

Wenn ich es recht bedenke, erliege ich sehr häufig der Versuchung, die Abkürzung zu nehmen, die schnellste Lösung und die naheliegendste Abzweigung. Das ist nicht unbedingt verkehrt, denn ich hätte sonst keinesfalls fünf Kinder in die Welt gesetzt. Es braucht einen gewissen Pragmatismus und eine ordentliche Portion Zackzack, willst du nicht endgültig dem Wahnsinn anheimfallen. Aber hin und wieder ist es wohl ratsam ein wenig mehr Zeit freizuräumen. Die Ursache suchen, die Zusammenhänge verstehen, die Wurzeln freilegen. Sorgfältig abwägen, ob sich die Abkürzung nicht schlussendlich als Umweg herausstellt. Bestelle ich ausschließlich bei Amazon, dann fällt nicht nur dieser eine Gang in die Stadt flach, sondern bald alle. Nehme ich mir bei der Meinungsbildung und Wahrheitsfindung nicht Gründlichkeit vor, dann brauche ich mir im Getöse der Polemik in Kürze gar keine mehr zu bilden. Stille ich den Kummer meiner Seele ratzfatz mit Süßkram und Netflix, anstatt ihn seine Geschichte erzählen zu lassen, dann wird er sich dauerhaft wohnlich einrichten. Nehme ich mir nicht Raum und Zeit für das, was Kinderherzen bewegt, dann stellen sie irgendwann das Reden ganz ein.

Die dunklen Monate sind angebrochen und erfahrungsgemäß dreht sich das Alltagskarussell auf die letzten Meter so schnell, dass du aufpassen musst, nicht hinten über zu fallen. Schnelle Lösungen, schnelle Termine, schnelle Geschenkideen müssen her. Lass uns ein wenig Tempo rausnehmen und gemessenen Schrittes den gangbaren Weg suchen. Es mag kurzfristig ein wenig mühseliger aussehen, unbequem und nervtötend. Womöglich bleibt das ein oder andere ungetan. Aber auf die lange Strecke gesehen, bist du weniger außer Puste.

 

 

Foto by pexels.com George Dolgikh

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